Reinhard Rathlef auf der Fähre über den Fluss...
Als Reinhard Rathlef 1965 für die Deutsche Indianer Pionier Mission (DPIM) mit dem Schiff nach Brasilien ausreist, war er in Kursen, Vorträgen und Praktikumseinsätzen auf seine Aufgabe vorbereitet worden. Was ihn im tiefsten Urwald Brasiliens erwartet, hatte er sich vorher jedoch nicht vorstellen können.
Auf der einen Seite des Flusses Zivilisation, auf der anderen Seite, im Grenzland Brasilien-Paraguay, Urwald. Hier gilt nicht das brasilianische Gesetz, sondern es gibt eigene "Gesetze". Reinhard Rathlef hat keinerlei Portugiesischkenntnisse als er auf einer kleinen Indianer-Missionsstation bei Brasilianern im tiefen Urwald Mato Grossos ankommt, 1.400 km von São Paulo entfernt. Neben der Sprache lernt der frühere Drogist Zähne ziehen, Spritzen geben, Eiterbeulen aufschneiden, Urwaldhütten bauen u. v. m.
1965 gründet Winfried Rathlef, Missionar der Deutschen Indianer Pionier Mission (DPIM) die erste Missionsstation in Pirajuí, muss sich aber aus Krankheitsgründen wieder zurückziehen.
Zwei Jahre später setzen sein Bruder Reinhard und Gerhard Kern die begonnene Arbeit fort. Schwerpunkte der ganzheitlichen Missionarsarbeit sind neben der Gemeindegründung Krankenarbeit, der Aufbau der Landwirtschaft und die Schulung der Indianer. Der Indianerstamm der Guaraní in Pirajuí wird von den "zivilisierten Grenz-Bewohnern" unterdrückt: Schmuggler und andere Verbrecher benutzen sie; es gilt das Recht der Waffe, Kriminalität und Alkohol regieren das Leben.Krankheit rafft die Menschen in großer Zahl weg. Es gibt keine Straßen, keine Krankenhäuser. Das hunderte von Kilometern entfernte Krankenhaus will keine Indianer behandeln. Das Militär versucht, Ordnung zu schaffen, kämpft aber in diesem Dschungel vergebens ... Der Indianerhäuptling Juleao lädt die Missionare ein und bittet um Hilfe.
"Ein solcher Einsatz bringt einen selbst an die physischen und psychischen Grenzen."
Reinhard Rathlef unterwegs
Gut, dass Reinhard Rathlef und die Krankenschwester Hilde Tiede sich in der Zentrale der Mission in São Paulo begegnet sind. 1968 heiraten sie bei den Indianern. Gerhard Kern beginnt eine neue Arbeit, 700 km entfernt.
Hilde Rathlef liest Indianerfrauen und -kindern vor.
Gott gibt den Rathlefs die Kraft für ihre Aufgaben, und sie selbst ergänzen sich als Missionars-Ehepaar so gut, dass sie in ihrem abenteuerlichen Umfeld vieles auf die Beine stellen können. "Es ist ein Wunder, dass wir überleben; ringsum Krankheiten, Gewalt ..."
Besonders großes Interesse findet die "Schule". Mütter mit Säuglingen auf dem Arm, gestandene Männer, die gut mit Buschmessern umgehen können, aber nie ein Blatt Papier in der Hand gehabt hatten, Kinder aller Altersgruppen ... sie alle wollen Lesen und Schreiben können. Neben den Fibeln ist das Neue Testament, in die Guaraní-Sprache übersetzt, das Lesebuch.
Die Kraft des Wortes Gottes verändert viele dieser Menschen. Die Missionare können es förmlich miterleben, wie hartgesottene Trinker durch den persönlichen Glauben an Gott und durch Gebet einfach das Trinken aufgeben.
Getrunken wurde nur hochprozentiger Zuckerrohrschnaps. Die Angst vor den Geistern weicht. Neue Hoffnung bricht auf; sie entdecken das Singen und das Musizieren im Gottesdienst.
Durch ihren engagierten Einsatz und ihre christliche Lebensart gewinnen die Rathlefs das Vertrauen aller Einwohnergruppen. Sie geben Hilfe zur Selbsthilfe, um Indianern und Kriminellen die Chance zu geben, zu verantwortlichen Gesellschaftsgliedern werden zu können. Durch die nomadischen Indianer spricht sich das schnell herum. Von 1965 bis 1975 kommen unzählige Menschen von überall her mit ihrem Hab und Gut zum kleinen Krankenhaus der Rathlefs, die mitten unter den Indianern leben. Tag und Nacht ist das "Händeklatschen" zu hören, mit dem Indianer ihre Ankunft anmelden. Wurmbehandlungen, Wundenbehandlungen, aber auch Informationen über Körperpflege und Hygiene generell gehören in diesen Jahren zum Alltag der Missionare; ebenso wie der Kampf mit dem Vorurteil, dass Krankheiten von bösen Personen gezaubert werden, die dafür nach Gerichtsverhandlung verurteilt und getötet werden müssen.
Die ersten Jahre sind die Rathlefs alleine im Einsatz in Pirajuí - unter Indianern, auch unter Schmugglern und Kriminellen, die sich als "Zivilisierte" bezeichnen. Um die Indianer zu schützen und bessere Lebensbedingungen für das Grenzgebiet zu erreichen, muss allen geholfen werden - auch den Kriminellen. Impfaktionen, Gottesdienste, ganzheitlicher Schul-Unterricht ... Für ein Einzugsgebiet von 120 km ... "Die ersten Jahre sind mörderisch. Einsamkeit und Überlebenskampf ist die allergrößte Herausforderung unseres Lebens. Selber oft krank, das Klima macht uns zu schaffen, verseuchtes Wasser, fehlende Lebensmittel, Insektenschwärme. Als schließlich Verstärkung kommt, sind wir total ausgepowert."
Reinhard Rathlef Anfang der 1970er Jahre in der Indianerschule Pirajuí. Die Rathlefs sind stolz darauf, dass einige dieser Kinder es schulisch weiter gebracht haben als sie selbst.
Nach ca. 15 Jahren ist es tatsächlich geschafft: Die Epedemien sind zurückgegangen. Der allgemeine Gesundheitszustand der Indianer und der "Zivilisierten" hat sich sehr gebessert. In der Abwesenheit der Missionare ist immer jemand zur Stelle, der gelernt hat, bei einfachen Erkrankungen erste Hilfe zu leisten.
Reinhard Rathlef - in allen Lebenslagen "dicht am Menschen"
Die neugegründete Schule, in denen die Indianer auf den brasilianischen Unterricht vorbereitet werden, geht 1976 in das staatliche Schulsystem über.
Heute sind rund 70 der ehemaligen Schüler aus verschiedenen Missionsschulen im Umkreis selbst Lehrer, wobei der Anteil der Schüler aus Pirajuí groß ist. In allen dieser Schulen sind die Schulleiter Indianer. Aber es gibt in Pirajuí nicht nur Lehrer - auch Krankenpfleger und Schwestern, gelernte Landwirte, Missionare, Pastoren. Ein junger Mann machte vor zwei Jahren seinen Uni-Abschluss in Biologie. Er schreibt Bücher und arbeitet als Lehrer.
Die Krankenarbeit ist seit kurzer Zeit nicht mehr in den Händen der Mission. Indigene Dorf-Gesundheitshelfer und Krankenpflege-Kräfte machen mit Hilfe des staatlichen Gesundheitsamtes die Arbeit.
Tiefgreifende Veränderungen wie Fernsehen im Indianerdorf, Städte in erreichbarer Nähe des Reservats mit Einkaufsmöglichkeiten und höheren Schulen, Lehm- und Schotterwege mit Busverbindungen verunsichern das Leben des einstigen Sammlers und Jägers. Hier sind Missionare gefragt, die mit viel Geduld und Zeit liebevoll dieses Volk begleiten.
Reinhard Rathlef ging 2002 zwar "in Rente", aber "Ruhestand" kann man das nicht nennen ...
Reinhard und Hilde Rathlef wohnen seit 1991 wieder in Deutschland, in Korntal. Ihr Herz jedoch - und auch das ihrer Kinder ist bei den Indianern geblieben.
Die Familie bleibt in Kontakt mit ihren südamerikanischen Freunden in den indianischen Gemeinden und der Wildwestler-Gemeinde. Wenn Sie auf Besuch nach Brasilien kommen, reisen die ehemaligen Schüler freudig bis aus 3.000 km Entfernung an. Die Rathlefs fördern durch Rat und Tat weiterhin die Arbeit der Missionare.
"Ein herzlicher Dank allen, auch den Gerlingern, die uns jahrzehntelang begleitet haben durch tatkräftige Unterstützung."
Zitate von Reinhard Rathlef:
"Die Zivilisation überrollt die Indianer im brasilianischen Urwald. Alles veränderte sich, jedoch nicht zum Besseren."
"Schmuggler zogen auch andere Verbrecher an. Im Grenzgebiet sammelten sich alle Arten von Kriminellen. 'Nicht ohne Waffen in dieses Gebiet,' sagte das Militär. Aber wir vertrauen auf Gott und darauf, dass er uns bewahrt."
"Unser Motto war von Anfang an: gewinnen, schulen, senden. Das hat sich sehr bewährt."
"Wenn wir die Bibel leben und nicht nur predigen, bestätigen wir das Evangelium."
"Die Indianer müssen Portugiesisch lernen, um in Brasilien nicht unterzugehen. Aber der Erhalt ihrer eigenen Kultur - und so auch ihrer Sprache - ist vehement wichtig und muss an den Schulen unterrichtet werden!"
"Mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln haben wir uns dagegengestellt, wenn unschuldige Frauen totgeprügelt werden sollten. Mit Erfolg. In den fast 30 Jahren unseres Einsatzes in Pirajuí sind wohl Gerichts-verhandlungen geführt worden, aber keine Frau wurde mehr zu Tode gequält. Wo der Zyklus des Mordens und der Rache durchbrochen wird durch den Glauben an Jesus Christus, entsteht neues Leben. Das erleben wir handgreiflich.
Beispiel:
Avelhano verletzt vorsätzlich das Schwein eines Christen. Der rächt sich nicht, sondern schenkt Avelhano ein Ferkel, nachdem das Mutterschwein wieder gesund geworden ist und geferkelt hat ... -
Später wurde Avelhano selbst Christ, nachdem er die Leute aus der Gemeinde gründlich beobachtet hatte."
"Wir konnten das Leben vieler Indianer retten. Die Verkündigung der Botschaft der Bibel hat Indianer und Verbrecher geändert, die heute ein verantwortliches Wesen haben. Für viele wird der Bibelvers zu Johannes 3, Vers 16, zu einem Lied der Hoffnung:
(Guaraní:) Ñandejara ohayhu etereígui yrypóra kuérape, ome'ĕ va'ekue Ta'yra peteĭete, opa umi hese ojeroviáva ani hağua oñehundi, oguereko hagua uvei pe tekove tapia guarã.
(Deutsch:) Gott liebte die Menschen so sehr, dass er seinen einzigen Sohn hergab. Nun wird jeder, der sein Vertrauen auf den Sohn Gottes setzt, nicht zu Grunde gehen, sondern ewig leben."
"In drei Bundesländern dieses riesigen Landes bis hin nach Paraguay gibt es heute Leute, die weitergeben, was wir miteinander erfahren und gelebt haben."